Ob nun Weiß als das Fehlen jeglicher Farbe oder als Vereinigung aller Farben angesehen wird: Im Architekturschaffen gilt Weiß in seiner „Reinheit“ als stilistisches Mittel einer allein auf die Form konzentrierten Architektursprache. Architekten und Gelehrte wie Andrea Palladio 1570, Giovanni Pietro Bellori 1672 oder Johann Wolfgang Goethe sprachen sich für eine weiße Architektur als Träger geistiger Reinheit und Erhabenheit aus. Dieses Ideal war getragen von den Zeugnissen der Antike, die unter dem deutschen Archäologen und Kunstwissenschaftler Johann Joachim Winkelmann (1717-1768) zur Begründung des Klassizismus führten. Winkelmanns ästhetisches Ideal von „edler Einfalt und stiller Größe“ leitete sich dabei wesentlich auch von der vermeintlich weißen Farbigkeit antiker Architektur und Plastik ab. Das 1788-1793 von Carl Gotthard Langhans nach antiken Vorbildern aus Elbsandstein errichtete Brandenburger Tor in Berlin wurde entsprechend ursprünglich mit einer weißen, Marmor imitierenden Kalkfarbe gefasst.
Auch in der klassizistischen Architektur des 19. Jahrhunderts, zu deren Vertretern maßgeblich der oberste preußische Architekt Karl Friedrich Schinkel (1781-1841) zählte, spiegelt sich dieses Ideal wider. Unter dem Einfluss zahlreicher klassizistischer Architekten wurden jedoch vermehrt auch helle Anstriche verwendet, die dem Ideal der Materialfarbigkeit edler Natursteine folgten. Der klassizistische Architekt Friedrich Weinbrenner (1766-1826) sprach sich in seinem architektonischen Lehrbuch von 1810 sogar gegen die weiße Farbigkeit aus, da sie zu sehr blende und Nachbargebäude belästige. Auch der Münchner Oberbaurat Leo von Klenze legte für die Bebauung der Münchener Ludwigstraße 1829 eine Farbmusterkarte von acht in verschiedenen warmen und kühlen Nuancen abgestimmten hellen Grautönen vor. Auf dem weißen Anstrich des Brandenburger Tors konnten im Zuge der Beseitigung aller Farbschichten in den 1920er Jahren sieben weitere Fassungen nachgewiesen werden, zu denen bräunliche, sandsteinfarbene, hell- und dunkelgraue sowie bronzefarbene Farben neben einer Vergoldung zählten. Die vom Klassizismus geprägten Architekten hatten sich zudem in der Frage einer wissenschaftlich korrekten Farbgebung der antiken Vorbilder zu positionieren. Archäologische Befunde zur Polychromie antiker Tempel und Plastik im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts hatten zu dem das gesamte 19. Jahrhundert prägenden „Polychromiestreit“ geführt, in dem sich Vertreter einer „weißen Antike“ denen einer „polychromen Antike“ gegenüberstanden.
Das reine Kalkweiß charakterisierte schließlich Le Corbusier 1925 als absolute, ehrliche und verlässliche Farbe. „Wenn ein Haus vollkommen weiß ist, hebt sich der Umriss der Dinge ohne die Gefahr eines Fehlers davon ab; die Volumina zeigen sich deutlich; die Farben sind eindeutig. Der weiße Anstrich ist absolut, alles hebt sich deutlichst davon ab, wie schwarz auf weiß, ehrlich und verlässlich.“ (Le Corbusier, L´Art décoratif d´aujourd´hui, 1925) Der aus diesen Worten sprechende Wunsch und das Streben nach architektonischer Klarheit kann als wesentliches Merkmal der Moderne bezeichnet werden Im Werkschaffen Le Corbusiers umfasste die weiße Periode jedoch nur die 1920er und 30er Jahre. Für die Weißenhofsiedlung in Stuttgart, 1927 vom Deutschen Werkbund unter der Leitung von Ludwig Mies van der Rohe als Ausstellung initiiert und von namhaften Vertretern des Neuen Bauens umgesetzt, spielte die Farbe Weiß am Außenbau eine prägende Rolle, auch wenn einzelne Fassadenflächen und Einzelelemente andersfarbig akzentuiert wurden. Als 1932 eine Postkarte veröffentlicht wurde, die mittels Collage die Weißenhofsiedlung als „Araberdorf“ mit Kamelen verunglimpfte, wurde jedoch nicht vorrangig die weiße Farbigkeit kritisiert, sondern vielmehr die durchgehende Verwirklichung von Flachdachbauten. Die Postkarte offenbarte nach dem Polychromiestreit einen weiteren Architekturstreit: den sich 1928 entzündenden Dächerstreit um die Frage der zeitgemäßen Dachform: Flachdach oder Spitzdach?
In der zeitgenössischen Architektur steht der amerikanische Architekt Richard Meier für die allumfassende und ausschließliche Verwendung der Farbe Weiß in seinen Entwürfen und realisierten Gebäuden. „Weiß erzeugt eine neutrale Oberfläche, auf der ich das Erlebnis eines Raumes aufbaut. Es verstärkt die Wahrnehmung von Organisation und Ordnung der räumlichen Prinzipien. Es erlaubt dem mächtigen Spiel von Licht und Schatten überzeugend zum Ausdruck zu kommen. Es erlaubt dem Licht die Architektur zu durchfluten, das Licht durchdringt sie, das Licht ist überall und kann daher in höchst unverfälschter und fundamentaler Weise erlebt werden.“ (Richard Meier „Die Farbe Weiß“ 2003) Die Verfallsproblematik, die sich bei den weiß verputzten Betonbauten Le Corbusiers zeigte, überwand der von ihm inspirierte Richard Meier in den 1970er Jahren mit der Anwendung elastischer, weiß emaillierter Stahlplatten zur Bildung der äußeren Verkleidung. Bis heute ist das jährliche „Weißeln“ von Innenräumen Ausdruck von Reinheit. Weiße Innenräume sind im Sinne einer architektonischen Klarheit aber auch zur Stilfrage geworden. Dies gilt insbesondere für eine Zeit, in der die Wahl von Farben nicht mehr vom Preis der verwendeten Pigmente abhängig ist.