Farben und Lacke machen unsere Welt seit Jahrtausenden schöner. Mehr noch: Sie schützen, was uns lieb und teuer ist und machen unsere Umgebung bunter. Doch moderne Beschichtungen können noch viel mehr: Sie schonen Ressourcen, beschleunigen Prozesse, helfen der Umwelt oder retten sogar Leben. In einer neuen Serie wollen wir diese oft wenig beachteten, aber unverzichtbaren smarten Farben vorstellen: Teil 1 - Brandschutzlacke/Intumeszenz-Beschichtungen
Dass Lacke auch Menschenleben retten können, scheint auf den ersten Blick unwahrscheinlich. Und doch gibt es spezielle Beschichtungen, die im Fall eines Brandes einen wesentlichen Beitrag zum Erhalt von Leben, Gesundheit oder Eigentum leisten. Bauverantwortliche werden beim Thema Brandschutz zwar nervös, weil die zu berücksichtigenden Maßnahmen so komplex und anspruchsvoll sind. Doch die Farbenindustrie hält mit den so genannten intumeszierenden Beschichtungen eine der wichtigsten und effizientesten Lösungen für einen vorbeugenden passiven Brandschutz bereit. Sie erlauben zudem auf Grund ihrer speziellen Rezeptur und Wirkungsweise einen faszinierenden Einblick in die Welt der Chemie und auf eine ihrer nützlichsten Funktionen. Die meisten Gebäude, in denen viele Menschen zusammenkommen, basieren auf Stahlkonstruktionen, beispielsweise Sportstadien, Wolkenkratzer, Flughafenterminals oder Messe- bzw. Veranstaltungshallen. Diese Stahlskelette haben ein geringes Eigengewicht, sind aber hoch belastbar und darüber hinaus schnell und einfach zu montieren. Doch sie haben auch einen Nachteil: Im Falle eines Brandes mit hohen Temperaturen könnten sie innerhalb weniger Minuten ihre Festigkeit verlieren, einknicken und die Menschen unter sich begraben. Damit das nicht passiert, werden sie mit speziellen intumeszierenden Beschichtungen versehen - auch Brandschutztüren werden so behandelt. Intumeszierend bedeutet so viel wie anschwellend, aufblähend, und vereinfacht gesagt machen diese Beschichtungen auf den ersten Blick nichts anderes. Wenn es brennt, blähen sie sich ab einer bestimmten Temperatur um ein Vielfaches auf, mitunter bis zum Hundertfachen ihres ursprünglichen Volumens. Sie schließen das tragende Bauteil ein und kühlen es auf diese Weise, so dass die Stabilität erhalten bleibt und Menschen ausreichend Zeit haben, das Gebäude zu verlassen. Bis dahin sind sie nichts weiter als ein unscheinbarer Anstrich auf Stahlträgern, Holzbalken oder Stahlbeton.
Intumeszierende Beschichtungen sind insofern erstaunliche Produkte, da sie Ihre Oberflächeneigenschaften bei Feuer selbsttätig anpassen können. Wer genau die zündende Idee für die Entwicklung dieser reaktiven Brandschutzbeschichtungen hatte, ist nicht bekannt. Die ersten Rezepturen für diese auch Dämmschichtbildner genannten Beschichtungen wurden in den 1970er Jahren entwickelt. Zunächst hatte man erkannt, dass sich um Holzbalken im Brandfall schnell eine Schicht aus Holzkohle bildet, die einen kühlenden Effekt hat, da sie Wärme schlechter leitet und damit das Innere des Balkens „kühlt“ und so vor einem schnellen Abbrennen schützt. Diesen Oberflächeneffekt des „Einkohlens“ konnte man mit der Entwicklung von intumeszierenden Beschichtungen auf Stahlkonstruktionen übertragen. Mittlerweile ist diese Technologie reaktiver Brandschutzbeschichtungen im Stahlhochbau unverzichtbar. Der Brandschutz von Stahl und Holz weist also einige Ähnlichkeiten auf, da die Intumeszenz auf ähnliche Weise erzeugt wird. Es werden jedoch unterschiedliche Prinzipien zum Schutz der jeweiligen Bauteile verfolgt. „Beim Schutz von Stahl kämpft man gegen den Temperaturanstieg des Untergrunds, um ein ‚Erweichen‘ des Stahls zu vermeiden bzw. zu verzögern, was oberhalb von 500 Grad Celsius geschieht“, erklärt Dr. Roger Soler-Palau, der als Produktmanager für zellulosischen, passiven Brandschutz bei Hempel A/S verantwortlich ist. „Andererseits isoliert sich Holz durch das ‚Einkohlen‘ selbst gegen die Temperatur und bleibt stabil. Allerdings verringert das Verbrennen allmählich den Querschnitt des Holzelements, wodurch seine Tragfähigkeit abnimmt. Bei Holz besteht deshalb das Hauptziel, die Verbrennung des Holzes selbst zu verhindern.“ Wie wichtig gerade für Stahlbauten Brandschutzbeschichtungen sind, zeigt sich auch daran, dass Brände in weniger als fünf Minuten Temperaturen von 900 Grad Celsius erreichen, die auf weit über 1000 Grad Celsius ansteigen können.
Intumeszierende Beschichtungen bestehen in der Regel aus fünf Hauptrohstoffen, die bei einem Feuer auf faszinierende Weise miteinander in Wechselwirkung geraten. Sie lösen eine Kaskade chemischer Reaktionen aus, die automatisch zum gewünschten Brandschutzeffekt führen. Dabei sind die Bindemittel oder Harze unter anderem zunächst für die Eigenschaften des Anstrichfilms verantwortlich, wie Verarbeitungsfreundlichkeit und Haltbarkeit. Hinzu kommt Ammoniumpolyphosphat (APP), das als Initiator, Katalysator und Treiber der chemischen Reaktionen der Intumeszenz fungiert, also dem Prozess des Aufblähens der Beschichtung. Daneben ist Polyalkohol enthalten, in der Regel Pentaerythrit, der als Kohlenstoffquelle für die zur Verkohlung führende Reaktion dient. Hinzu kommt ein Treibmittel, meist Melamin, das sich im Fall eines Feuers zu Gasen zersetzt. Darüber hinaus enthalten die Beschichtungen Titandioxid und andere anorganische Zusätze, die die Geschwindigkeit und die Art und Weise, wie sich die Verkohlung bildet, beeinflussen. „Das Phänomen der Intumeszenz in Beschichtungen ist aus chemischer Sicht faszinierend, stellt aber auch eine Herausforderung dar, wenn man es nach seinen Vorstellungen steuern möchte“, so Dr. Soler-Palau. „Der rasche Temperaturanstieg, der vom Feuer ausgeht, wirkt wie ein Tsunami. Erreicht dieser Energieschub die intumeszierende Beschichtung, löst er in kürzester Zeit eine Vielzahl physikalischer und chemischer Vorgänge aus, an deren Ende eine expandierte, also aufgeblähte kohlenstoffhaltige Verkohlung mit geringer Wärmeleitfähigkeit steht, die Stahl oder Holz gegen Hitze isoliert.“ Der Vorgang beginnt bei etwa 200 bis 250 Grad Celsius, wenn die Mischung der Inhaltsstoffe in einen halbflüssigen Zustand übergeht. Dabei zersetzt sich das APP und gibt Phosphorsäure frei. Diese reagiert mit den Kohlenstoffquellen der Mischung und mit den Bindemitteln. Die entstehende zähflüssige Schicht enthält auch die Treibmittel, die sich durch die Hitze des Feuers in Gase - Ammoniak und Stickstoff - zersetzen. Diese Gase führen zu Millionen von mikroskopisch kleinen Hohlräumen innerhalb der sich aufblähenden Beschichtung. Das verringert die Wärmeleitfähigkeit, wodurch die Stahlkonstruktion der jeweils vorgesehenen Branddauer standhält. Die aufgeschäumte Schicht aus mikroporösem „Kohleschaum“ zersetzt sich jedoch im Laufe des Brandes, wodurch die isolierende Wirkung wieder abnimmt. Die Ausdehnung der Beschichtung beträgt in der Regel das Zwanzig- bis Fünfzigfache, kann aber je nach geforderten Eigenschaften auch das Zehn- oder Hundertfache betragen. So kann eine Schicht mit 1 mm Dicke im Brandfall auf etwa 50 mm aufschäumen und dadurch eine wirksame Hitzeisolierung bilden. Die Hauptfunktion von Intumeszenzfarben besteht darin, die Zeit zu verlängern, in der ein Bauteil seine geplante Tragfähigkeit oder Festigkeit behält. Die geforderte Zeit wird in der Regel durch die Bauvorschriften und gesetzlichen Bestimmungen des Standorts des Gebäudes festgelegt und hängt mit der Evakuierungszeit des Gebäudes zusammen: Ein großes, öffentlich genutztes Gebäude mit mehreren Stockwerken erfordert eine längere Evakuierungszeit als ein kleines, ebenerdiges Lager mit leicht zugänglichen kurzen Fluchtwegen und geschultem Personal. In Deutschland ist je nach Gebäudetyp eine Branddauer von 30 oder 90 Minuten vorgeschrieben. Die Feuerwiderstandsklassen sind entsprechend mit F30 bzw. F90 angegeben. Da der Trend in den Städten zum Bau größerer und höherer Gebäude geht, die längere Evakuierungszeiten erfordern, ist eine Branddauer von 120 oder sogar 180 Minuten bei einigen großen Projekten in Europa wie auch in anderen Regionen heute durchaus üblich.
Für die Verarbeitung beziehungsweise das Aufbringen der Beschichtung geht es für die Anwender vor allem um Schnelligkeit und Abfallvermeidung. Dies spielt insbesondere bei großen Bauvorhaben wie Stadien oder Flughäfen eine große Rolle, wo intumeszierende Beschichtungen meist aufgespritzt werden. Für diesen Einsatzzweck werden die meisten dieser Beschichtungen auch entwickelt. Bei Ausbesserungsarbeiten oder kleinen Flächen kommen mitunter auch Pinsel oder Rolle zum Einsatz. Sie können jedoch je nach Verwendungszweck ganz unterschiedlich eingestellt werden, so dass dieselbe Lösung in verschiedenen Situationen verwendet werden kann, was die Arbeit der Planer, der Lieferkette und der Lackierer vereinfacht. Es lässt sich nicht pauschal sagen, in welchen Zyklen Brandschutz-Beschichtungen erneuert werden müssen. Denn ihre Haltbarkeit hängt immer stark von den Umgebungsbedingungen ab. Generell sind die Produkte aber langlebig – die meisten intumeszierenden Anstriche erfüllen bei fachgerechtem Auftrag und regelmäßiger Wartung 20 Jahre oder sogar noch länger ihren Zweck. Beschichtungssysteme auf Wasserbasis reagieren empfindlich auf Feuchtigkeit und Wasser – daher kommen sie vor allem zum Schutz in Innenräumen zum Einsatz. Lösemittelbasierte Anstriche sind beständiger gegen Feuchtigkeit und somit haltbarer. Für sehr anspruchsvolle Bedingungen, etwa in Gebieten mit hoher Luftfeuchtigkeit oder bei extremer chemischer oder mechanischer Beanspruchung, eignen sich Beschichtungen auf Basis von Epoxidharzen. Sie zeichnen sich durch eine hohe Widerstandsfähigkeit und lange Lebensdauer aus. Eine regelmäßige Prüfung und Wartung sind in jedem Fall empfehlenswert, um die Funktion der Brandschutz-Beschichtungen zu erhalten.
Nachhaltigkeit ist in der Lack- und Druckfarbenindustrie ein zentrales Thema – das gilt auch für die intumeszierenden Beschichtungen. „Hersteller und Rohstofflieferanten arbeiten kontinuierlich daran, ihren ökologischen Fußabdruck in diesem Segment zu optimieren“, erläutert Dr. Soler-Palau. „Allerdings müssen wir immer im Blick haben, dass diese speziellen Beschichtungssysteme vor allem Leben retten sollen. Die besondere Aufgabe besteht also darin, sie nachhaltiger zu gestalten, ohne ihre außergewöhnliche Qualität und Leistung zu beeinträchtigen.“ Aktuell konzentrieren sich Forscher auf mehrere Ansätze: Wie lassen sich etwa potenziell schädliche Inhaltstoffe ersetzen? Wie kann der Anteil an erneuerbaren Rohstoffen erhöht werden, etwa durch Methanderivate, Polyalkohole oder auch Bindemittel auf biologischer Basis? Ein interessanter Lösungsansatz dazu kommt unter anderem aus Brasilien. Dort haben Wissenschaftler eine Epoxidharzbeschichtung mit pflanzlichen Verbindungen (Ingwerpulver und Kaffeebohnen) entwickelt, die als Kohlenstoffquelle in intumeszierenden Systemen wirkt. Weitere Forschungsschwerpunkte beschäftigen sich mit Verbrauch und Haltbarkeit von Brandschutz-Schäumen. Im Sinne der Nachhaltigkeit geht es darum, die Beschichtungsmenge zu verringern und die Lebensdauer der Produkte zu erhöhen. Jüngste Forschungen gehen außerdem der Frage nach, ob und wie sich bestimmte Inhaltsstoffe von aufschäumenden Beschichtungen recyceln lassen. Fest steht, dass ihre besonderen Eigenschaften und ihr spezielles Design Wissenschaftler vor zahlreiche praktische Herausforderung stellen.
Der Stoff Melamin zersetzt sich bei hohen Temperaturen und sorgt dabei dafür, dass Gas entsteht, welches das Aufschäumen bewirkt. Als Treibmittel ist er Hauptbestandteil bei den meisten aufschäumenden Beschichtungen. Er ist außerdem in zahlreichen industriellen Anwendungen enthalten, beispielsweise in der Automobilbranche sowie in der Luft- und Raumfahrttechnologie, aber auch in vielen Gebrauchsgegenständen wie Plastikgeschirr, Schutzkleidung und Nagellack. Doch das Material steht in der Kritik: Von der Europäischen Chemikalienagentur (ECHA) wurde es 2023 auf die Liste der besonders besorgniserregenden Stoffe gesetzt und könnte sogar ganz verboten werden. Trotz engagierter Forschung gibt es noch keine Alternative, die das Brandschutzniveau von Melamin erreicht. Solange es keinen vergleichbaren Ersatz gibt, sollte der Einsatz von Melamin daher differenziert betrachtet werden. Anders als beispielsweise im Essgeschirr ist der Stoff aber in intumeszierenden Anstrichen in eine feste Matrix eingebunden und stellt damit keine unmittelbare Gefährdung der Gesundheit dar. Nach wie vor sind die besonderen Eigenschaften von Brandschutz-Beschichtungen von zentraler Bedeutung, um im Brandfall Menschenleben schützen und sind- somit existenziell für die Sicherheit in vielen Bereichen unseres öffentlichen und privaten Lebens. CEPE und VdL setzen sich daher dafür ein, dass die Anwendung von Melamin in Brandschutzbeschichtungen weiterhin möglich ist, führen Studien durch und stehen in intensivem Austausch mit den zuständigen Behörden.